Martina Schein
Freizeit-Nerd-Grufti

Jung, attraktiv, begabt und unabhängig: Das ist Mia Holl, eine Frau von dreißig Jahren, die sich vor einem Schwurgericht verantworten muss. Zur Last gelegt wird ihr ein Zuviel an Liebe (zu ihrem Bruder), ein Zuviel an Verstand (sie denkt naturwissenschaftlich) und ein Übermaß an geistiger Unabhängigkeit. In einer Gesellschaft, in der die Sorge um den Körper alle geistigen Werte verdrängt hat, reicht diese Innenausstattung aus, um als gefährliches Subjekt eingestuft zu werden. Mia Holl will beweisen, dass ihr Bruder, verurteilt wegen einer angeblichen Vergewaltigung, unschuldig ist. Sie gerät also in Stellung gegen das System, hier "Methode" genannt, auch aus Liebe zu ihrem Bruder, der sich das Leben nahm.
Juli Zeh entwirft in CORPUS DELICTI das spannende Science-Fiction-Szenario einer Gesundheitsdiktatur irgendwann im 21. Jahrhundert. Sie zeichnet ein System, das alle und alles kontrolliert. Gesundheit ist zur höchsten Bürgerpflicht geworden. Die "Methode" verlangt ein festes Sportpensum ebenso wie die Abgabe von Schlaf- und Ernährungsberichten. Buchstäblich über jeden Schritt seiner Bürger ist dieser Staat informiert.
CORPUS DELICTI handelt von höchst aktuellen Fragen: Wie weit kann und wird der Staat individuelle Rechte einschränken? Gibt es ein Recht des Einzelnen auf Widerstand?
Juli Zehs CORPUS DELICTI. EIN PROZESS ist ein visionäres und ungeheuer spannendes Buch über unsere Zukunft - und unsere Gegenwart.
Meine Gedanken zu diesem Buch:
Das Leben ist ein Angebot, das ich in einer solchen Welt garantiert dauerhaft ablehnen würde

Dieses Buch darf ich abends im Bett nicht lesen, denn ich rege mich dermaßen über die beschriebenen Zustände auf, dass ich danach sehr schlecht einschlafe.
Gegen die Überwachungsmaßnahmen der METHODE sind die von Edward Snowden beschriebenen ja direkt Kinderkram. Privatsphäre und Individualität sind in dieser Welt Fremdwörter. Der übermächtige Staat dominiert und kontrolliert alle Lebensbereiche der Menschen. Selbst die Lebensgefährten werden nach immunologischer Verträglichkeit ausgewählt.
In einer solchen Welt will ich nicht leben. Ein Leben ohne Krankheiten und Schmerzen ist für mich nicht gleichbedeutend mit Zufriedenheit und Glück.
Was für eine Arroganz hinter der METHODE steckt. Nichts und Niemand ist unfehlbar.
Wir können nach Vollkommenheit und Unfehlbarkeit streben, werden beides jedoch nie erreichen. Und wäre es doch möglich, nach was sollten wir dann noch streben?
Selbst Kramer gesteht Lücken im System ein. Für mich beißt sich die Katze da selbst in den Schwanz. Entweder etwas ist perfekt oder eben nicht. Aber wirkliche Perfektion gibt es nicht, daher ist auch nichts von Menschenhand Geschaffene unfehlbar.
Moritz zu Mia Holl:
»Dem wahren Menschen genügt das Dasein nicht, wenn es ein bloßes Hier-Sein meint. Der Mensch muss sein Dasein erfahren. Im Schmerz. Im Rausch. Im Scheitern. Im Höhenflug. Im Gefühl der vollständigen Machtfülle über die eigene Existenz. Über das eigene Leben und den eigenen Tod. Das, meine arme, vertrocknete Mia Holl, ist Liebe.«
Sprachlich gefällt mir das Buch nicht so gut. Zwar gibt die Autorin die Kälte einer derartigen Welt gut wieder, doch mir fehlen sowohl Spannung als auch der »Romanstil«. Für mich ist das Buch mehr eine Auflistung von Argumenten. Die Protagonisten sind mir ferner zu grob und undifferenziert gezeichnet. Den Schreibstil selbst empfinde ich teilweise als zu gestelzt, hochtrabend und häufig distanziert. Auch hat mir das Buch generell zu wenig Tiefgang. Aber okay, das Ganze mag dem Thema geschuldet sei.
Gut gefallen hat mir die Figur der »idealen Geliebten«, die so gar nicht in die beschriebene Welt passt, sie aber weniger steril erscheinen lässt.
Insgesamt hat mich das Buch sehr nachdenklich zurückgelassen. Meiner Krankenkasse werde ich ganz sicher keine Fitness- und sonstige Daten aushändigen. Wollen sie die haben, müssen sie meine Geräte hacken - was derzeit noch illegal ist. Obwohl, wenn ich so an das BKA, die NSA und Konsorten denke ...